Language of document : ECLI:EU:C:2024:563

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NICHOLAS EMILIOU

vom 27. Juni 2024(1)

Verbundene Rechtssachen C123/23 und C202/23 [Khan Yunis und Baabda](i)

N. A. K.,

E. A. K.,

Y. A. K. (C123/23) und

M. E. O. (C202/23)

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Minden, Deutschland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asyl – Richtlinie 2013/32/EU – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Antrag auf internationalen Schutz – Unzulässigkeitsgründe – Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 – Folgeantrag auf internationalen Schutz – Umstände, unter denen ein Folgeantrag für unzulässig erklärt werden kann – Möglichkeit, einen Folgeantrag für unzulässig zu erklären, der gestellt wird, nachdem ein Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person von einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen wurde“






I.      Einleitung

1.        Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32/EU enthaltenen Unzulässigkeitsgrundes(2). Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten „Folgeanträge“ unter bestimmten Voraussetzungen für unzulässig erklären. Nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie sind „Folgeanträge“ Anträge auf internationalen Schutz, die von derselben Person „nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag“ gestellt wurden.

2.        Beide Bestimmungen enthalten keine Angaben dazu, ob dieser Unzulässigkeitsgrund ausschließlich in dem Kontext anwendbar ist, dass beide Anträge vom selben Mitgliedstaat geprüft werden, oder auch in einem Fall, an dem mehrere Mitgliedstaaten beteiligt sind und in dem das frühere Asylverfahren von einem anderen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) als demjenigen durchgeführt wurde, in dem der „Folgeantrag“ gestellt wird (Mitgliedstaat B).

3.        Nach deutschem Recht kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt) einen bei ihm „nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens“ für denselben Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig erklären, wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Das Verwaltungsgericht Minden (Deutschland) möchte wissen, ob diese Regelung mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 vereinbar ist.

4.        Der Gerichtshof wurde bereits um eine Stellungnahme zu dieser Frage ersucht(3). Er hat seine Feststellungen bei früheren Gelegenheiten jedoch auf die besonderen Fälle beschränkt, in denen die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person von einem Drittstaat oder von einem Mitgliedstaat, der zwar die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 anwendete(4), aber weder an die Richtlinie 2013/32 noch an die Richtlinie 2011/95/EU(5) gebunden war (nämlich Norwegen und Dänemark), erlassen worden war. Mit den vorliegenden Rechtssachen wird der Gerichtshof um eine Prüfung der Anwendung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Unzulässigkeitsgrundes in der Fallkonstellation ersucht, dass Anträge auf internationalen Schutz später von derselben Person in anderen Mitgliedstaaten gestellt werden, die am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem voll teilnehmen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 definiert den Begriff „Folgeantrag“ als „weiteren Antrag auf internationalen Schutz, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen der Antragsteller seinen Antrag ausdrücklich zurückgenommen hat oder die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 [dieser Richtlinie] abgelehnt hat“.

6.        Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)      Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

d)      es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

…“

7.        Art. 40 („Folgeanträge“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

(2)      Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

(3)      Wenn die erste Prüfung nach Absatz 2 ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, wird der Antrag gemäß Kapitel II weiter geprüft. Die Mitgliedstaaten können auch andere Gründe festlegen, aus denen der Folgeantrag weiter zu prüfen ist.

(5)      Wird ein Folgeantrag nach diesem Artikel nicht weiter geprüft, so wird er gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d als unzulässig betrachtet.

(7)      Wenn eine Person, gegen die ein Überstellungsbeschluss gemäß der [Dublin‑III-Verordnung] zu vollstrecken ist, in dem überstellenden Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft der gemäß der genannten Verordnung zuständige Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder Folgeanträge im Einklang mit dieser Richtlinie.“

B.      Deutsches Recht

8.        Die wesentlichen materiellen und verfahrensbezogenen Regelungen für Asylverfahren sind im Asylgesetz vom 26. Juni 1992 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. 2008 I S. 1798) in der auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: AsylG) geregelt.

9.        § 29 („Unzulässige Anträge“) AsylG bestimmt:

„(1) Ein Antrag ist unzulässig, wenn

5.      im Falle eines Folgeantrags nach § 71 oder eines Zweitantrags nach § 71a ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist.“

10.      § 71a („Zweitantrag“) AsylG bestimmt:

„(1)      Stellt der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a), für den [das Unionsrecht] über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren [gilt] oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Absatz 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes [in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. Januar 2003 (BGBl. 2003 I S. 102), im Folgenden: VwVfG] vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.“

11.      Das VwVfG enthält allgemeine Vorschriften über das Verwaltungsverfahren der Behörden. In § 51 Abs. 1 bis 2 VwVfG heißt es:

„(1)      Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn

1.      sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat;

2.      neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden;

3.      Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind.

(2)      Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

A.      Rechtssache C123/23

12.      Die Kläger des Ausgangsverfahrens, N. A. K., E. A. K. und Y. A. K., sind Staatenlose palästinensischer Herkunft, die im Gazastreifen lebten. N. A. K, die 1985 geboren wurde, ist die Mutter von E. A. K und Y. A. K.

13.      Die Kläger reisten ihren Angaben zufolge am 11. November 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und suchten am 15. November 2019 um Asyl nach. Ihre Anträge wurden vom Bundesamt am 22. November 2019 förmlich registriert.

14.      N. A. K. gab an, sie habe den Gazastreifen mit ihren Kindern im Jahr 2018 nach Verfolgung durch die Hamas aufgrund der politischen Tätigkeit ihres Ehemanns verlassen, und sie seien u. a. über Spanien und Belgien nach Deutschland gereist. In Belgien hätten sie ca. ein Jahr gelebt und dort Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

15.      N. A. K. gab ferner an, dass ihr Ehemann 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Sein Antrag auf internationalen Schutz wurde jedoch mit Bescheid vom 31. März 2017 abgelehnt.

16.      Das Bundesamt richtete nach den Art. 23, 24 und 25 der Dublin‑III-Verordnung ein Wiederaufnahmegesuch an die zuständigen spanischen Behörden. Das Gesuch wurde von diesen Behörden mit Schreiben vom 28. November 2019 abgelehnt, da sie für die Prüfung der Anträge von N. A. K. und ihren Kindern nicht zuständig seien.

17.      Ein Wiederaufnahmegesuch an die belgischen Behörden wurde vom Bundesamt nicht gestellt. Vielmehr richtete es an diese Behörden ein Informationsersuchen nach Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung, mit dem der Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert werden soll.

18.      In ihrer Antwort vom 5. März 2021 teilten die belgischen Behörden mit, dass N. A. K. am 21. August 2018 in Belgien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe. Ihr Antrag sei jedoch am 5. Juli 2019 nach Prüfung in der Sache abgelehnt worden. In dem bei ihnen geführten Asylverfahren sei nicht glaubhaft gemacht worden, dass N. A. K. in ihrem Herkunftsland eine Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden drohe. Außerdem hätten sie festgestellt, dass N. A. K. bei ihrer Rückkehr in den Gazastreifen Schutz und Hilfe des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) in Anspruch nehmen könne.

19.      Gegen diese Entscheidung, so die belgischen Behörden weiter, habe N. A. K. kein Rechtsmittel eingelegt, so dass sie bestandskräftig geworden sei.

20.      Mit Bescheid vom 25. Mai 2021 lehnte das Bundesamt die Anträge von N. A. K. und ihren Kindern als unzulässig ab und drohte ihnen die Abschiebung in den Gazastreifen an.

21.      Das Bundesamt war insbesondere der Ansicht, dass gemäß § 71a Abs. 1 AsylG kein weiteres Asylverfahren für die Kläger des Ausgangsverfahrens durchzuführen sei. Denn ihre früheren Anträge auf internationalen Schutz seien von den belgischen Behörden abgelehnt worden, und Wiederaufgreifensgründe gemäß § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen nicht vor. Das Bundesamt stellte insoweit fest, dass sich weder die Sach- und Rechtslage in Bezug auf N. A. K. und ihre Kinder geändert habe noch die Kläger neue Beweismittel vorgelegt hätten.

22.      Gegen diesen Bescheid erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens am 9. Juni 2021 Klage beim Verwaltungsgericht Minden, dem vorlegenden Gericht. N. A. K. brachte vor, dass ihr im Gazastreifen ernsthafte Benachteiligung drohe, da Gewalt gegen Frauen, insbesondere wenn sie geschieden oder alleinstehend seien, dort gesellschaftlich akzeptiert sei. Ferner sei der Zugang zu medizinischer Versorgung bzw. Arbeit eingeschränkt, und aufgrund der prekären Zustände im Gazastreifen sei es ihr und ihren beiden Kindern nicht möglich, ihren elementaren Lebensunterhalt sicherzustellen. Ferner bestehe für sie keine familiäre Unterstützung im Gazastreifen, und auch eine hinreichende Unterstützung für sie und ihre Kinder durch das UNRWA sei nicht zu erwarten. Diese Gesichtspunkte seien von den Behörden in Belgien nicht berücksichtigt worden. Außerdem sei es ihr und ihren Kindern faktisch nicht möglich, in den Gazastreifen zurückzukehren und sich dem Schutz des UNRWA zu unterstellen. Aufgrund dieser Gesichtspunkte sei ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

23.      Mit Beschluss vom 31. August 2021 ordnete das vorlegende Gericht die aufschiebende Wirkung der von N. A. K. erhobenen Klage gegen die im angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung an. Es kam unter Verweis auf das Vorbringen in der Rechtssache C‑8/20, L. R. (Von Norwegen abgelehnter Asylantrag), zu dem Schluss, dass Zweifel an der Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit dem Unionsrecht beständen.

24.      Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Minden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz von dem anderen Mitgliedstaat bestandskräftig als unbegründet abgelehnt wurde?

B.      Rechtssache C202/23

25.      Der Kläger des Ausgangsverfahrens, M. E. O., ist libanesischer Staatsangehöriger und wurde 1989 geboren. Er reiste am 2. März 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und ersuchte am selben Tag um Asyl. Seinen Antrag registrierte das Bundesamt am 30. April 2020. Nach einer Eurodac-Abfrage durch das Bundesamt, die einen Treffer der Kategorie 1 für Polen ergab, stimmten die polnischen Behörden mit Schreiben vom 29. April 2020 der Wiederaufnahme von M. E. O. zu.

26.      Mit Bescheid vom 25. Juni 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag von M. E. O als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Polen an. Das Bundesamt führte an, dass Polen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei.

27.      Gegen diesen Bescheid wurde von M. E. O. am 6. Juli 2020 beim Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland) Klage erhoben und ein Eilantrag gestellt. Diesen Antrag lehnte das vorgenannte Gericht ab.

28.      Anfang November 2020 teilte das Bundesamt den polnischen Behörden mit, dass die Frist für die Überstellung von M. E. O. nach Polen zwar noch nicht abgelaufen sei, die Durchführung der Überstellung tatsächlich aber nicht möglich sei, weil M. E. O. flüchtig sei.

29.      Mit Schreiben vom 2. Februar 2021 hob das Bundesamt seinen Bescheid vom 25. Juni 2020 mit der Begründung auf, dass die Frist zur Überstellung von M. E. O. abgelaufen sei. Auf ein Informationsersuchen des Bundesamts teilten die polnischen Behörden mit Schreiben vom 28. April 2021 mit, dass das Asylverfahren in Polen am 20. April 2020 eingestellt worden sei. Dieses Verfahren hätte von M. E. O. bis Januar 2021 (d. h. innerhalb eines Zeitraums von neun Monaten ab dem Datum der Entscheidung zur Einstellung der Prüfung) wieder aufgenommen werden können, für eine Wiederaufnahme sei es nunmehr aber zu spät.

30.      Mit Bescheid vom 14. Juli 2021 lehnte das Bundesamt den Asylantrag von M. E. O. als unzulässig ab und drohte ihm die Abschiebung nach Libanon an. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, dass gemäß § 71a Abs. 1 AsylG in Deutschland kein weiteres Asylverfahren durchzuführen sei, da das Asylverfahren in Polen eingestellt worden sei, ohne dass M. E. O. dort internationaler Schutz gewährt worden sei. Das Bundesamt stellte insoweit fest, dass sich weder die Sach- noch die Rechtslage in Bezug auf M. E. O. gegenüber derjenigen, die in seinem früheren Antrag in Polen dargelegt worden sei, geändert habe und auch keine neuen Beweismittel vorgelegt worden seien.

31.      Gegen diesen Bescheid erhob M. E. O. am 27. Juli 2021 Klage beim Verwaltungsgericht Minden, dem vorlegenden Gericht.

32.      Mit Beschluss vom 31. August 2021 ordnete das vorlegende Gericht die aufschiebende Wirkung der von M. E. O. erhobenen Klage gegen die im Bescheid des Bundesamts enthaltene Abschiebungsandrohung an. Es habe ferner Zweifel im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „Folgeantrag“ und die Vereinbarkeit von § 71a AsylG mit dem Unionsrecht.

33.      Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht Minden beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in diesem Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat?

2.      Falls Frage 1 zu verneinen ist:

Ist Art. 33 Abs. 2 lit. d) der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 2 lit. q) dieser Richtlinie dahin gehend auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen ist, wenn der Antragsteller bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und das Verfahren von dem anderen Mitgliedstaat eingestellt wurde, weil der Antragsteller das Verfahren in dem anderen Mitgliedstaat nicht weiter betrieben hat, obwohl das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat von dem anderen Mitgliedstaat noch wiedereröffnet werden kann, wenn der Antragsteller dies in dem anderen Mitgliedstaat beantragt?

3.      Falls Frage 2 zu bejahen ist:

Gibt das Unionsrecht vor, welcher Zeitpunkt bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend ist, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann, oder richtet sich diese Frage allein nach nationalem Recht?

4.      Falls Frage 3 dahin gehend zu beantworten ist, dass das Unionsrecht entsprechende Vorgaben enthält:

Welcher Zeitpunkt ist nach den Vorgaben des Unionsrechts bei der Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend, ob ein zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eingestelltes Asylverfahren noch wiedereröffnet werden kann?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

34.      Die Vorabentscheidungsersuchen vom 28. Oktober 2022 sind am 1. März 2023 (in der Rechtssache C‑123/23) und am 28. März 2023 (in der Rechtssache C‑202/23) beim Gerichtshof eingegangen.

35.      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. Mai 2023 sind die Rechtssachen C‑123/23 und C‑202/23 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

36.      Die Bundesrepublik Deutschland, die französische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die Bundesrepublik Deutschland und die Kommission waren in der mündlichen Verhandlung vom 29. Februar 2024 vertreten.

V.      Würdigung

37.      Man kann sich leicht vorstellen, dass es für einen Asylbewerber, um seine Aussichten auf die Erlangung internationalen Schutzes zu maximieren, wünschenswert sein mag, Anträge auf internationalen Schutz in mehr als einem Mitgliedstaat zu stellen. Der Unionsgesetzgeber ist sich durchaus bewusst, dass es von großer Bedeutung ist, zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die Behörden der Mitgliedstaaten mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und hat, um einem „forum shopping“(6) zuvorzukommen, konkrete Bestimmungen in die Dublin‑III-Verordnung aufgenommen, die darauf abzielen, die Behandlung von Anträgen ein und derselben Person auf einen einzigen Mitgliedstaat zu beschränken(7) und damit die „Sekundärmigration“ einzudämmen(8). Er hat im Wesentlichen einen Mechanismus der „einzigen Anlaufstelle“ vorgesehen, der Asylbewerber davon abhalten soll, gleichzeitig oder nacheinander mehrere Asylverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten (Mitgliedstaaten A, B usw.) einzuleiten, indem in Mitgliedstaat B, C usw. ein Asylverfahren eingeleitet wird, sobald in Mitgliedstaat A ein Asylverfahren abgeschlossen oder eingestellt wird.

38.      Ich werde zunächst die Bestimmungen der Dublin‑III-Verordnung darstellen, die der Unionsgesetzgeber ausdrücklich erlassen hat, um zu verhindern, dass eine solche Fallkonstellation eintritt (A). Anschließend werde ich prüfen, ob es den Mitgliedstaaten möglich ist, diese Lösung dadurch zu ergänzen, dass sie ihren zuständigen Behörden und Gerichten die Möglichkeit geben, einen Antrag, der gestellt wurde, nachdem über einen früheren Antrag derselben Person ein Asylverfahren von einem anderen Mitgliedstaat durchgeführt wurde, unter bestimmten Voraussetzungen gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären (B). Die zentrale Frage, die in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfen wird, betrifft nämlich die Anwendbarkeit des in diesen Vorschriften enthaltenen Unzulässigkeitsgrundes in einer Situation, an der verschiedene Mitgliedstaaten beteiligt sind, nämlich wenn eine Person Asyl in einem Mitgliedstaat B (hier Deutschland) beantragt, während bereits ein Asylverfahren über einen früheren Antrag derselben Person in Mitgliedstaat A (hier Belgien bzw. Polen) durchgeführt worden ist.

A.      „Wiederaufnahmeverfahren“ als ausdrückliche Lösung des Unionsgesetzgebers

39.      Um der Stellung von Anträgen auf internationalen Schutz durch ein und dieselbe Person in verschiedenen Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, hat der Unionsgesetzgeber in der Dublin‑III-Verordnung Bestimmungen erlassen, nach denen solche Anträge von einem einzigen Mitgliedstaat (im Folgenden: zuständiger Mitgliedstaat) geprüft werden. Insbesondere in Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d dieser Verordnung ist geregelt, dass der zuständige Mitgliedstaat verpflichtet ist, einen Antragsteller „wieder aufzunehmen“, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat(9).

1.      Kurzer Überblick über das „Wiederaufnahmeverfahren“

40.      Das „Wiederaufnahmeverfahren“ ist in den Art. 23 bis 25 der Dublin‑III-Verordnung geregelt. Dieses Verfahren beginnt mit einem „Wiederaufnahmegesuch“ des „ersuchenden Mitgliedstaats“ (d. h. des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller sich aufhält) an den zuständigen Mitgliedstaat. Wird es erfolgreich durchgeführt, führt es schließlich zur Überstellung des Antragstellers vom ersuchenden Mitgliedstaat in diesen anderen Mitgliedstaat. Die Modalitäten und Fristen für die Überstellung sind in Art. 29 dieser Verordnung geregelt.

41.      Diesen Bestimmungen ist meines Erachtens zu entnehmen, dass zu den Fällen, in denen ein „Wiederaufnahmegesuch“ von dem ersuchenden Mitgliedstaat gestellt werden kann, erstens derjenige gehört, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser in diesem Mitgliedstaat Asyl beantragt, während sein Antrag vom zuständigen Mitgliedstaat geprüft wird oder nachdem er seinen Antrag in diesem Mitgliedstaat zurückgezogen hat (Art. 18 Buchst. b und c der Dublin‑III-Verordnung), und zweitens derjenige, dass er dies tut, nachdem sein Antrag vom zuständigen Mitgliedstaat abgelehnt wurde (Art. 18 Buchst. d dieser Verordnung). Der erste Fall dürfte meines Erachtens dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑202/23 entsprechen, da das Asylverfahren in Polen über einen früheren Antrag von M. E. O. noch anhängig war, als er seinen Antrag beim Bundesamt „stellte“. Dieses Verfahren wurde jedoch wenige Tage später nach Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 mit der Begründung eingestellt, dass M. E. O. seinen früheren Antrag bei den polnischen Behörden stillschweigend zurückgenommen hatte. Dem zweiten Fall entspricht der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑123/23.

42.      Daraus folgt, dass dem Bundesamt in beiden Fallkonstellationen eine „offensichtliche“ Lösung zur Verfügung stand, um zu verhindern, dass es die Anträge von N. A. K. und ihren Kindern einerseits und von M. E. O. andererseits prüfen musste. Es hätte nämlich ein „Wiederaufnahmegesuch“ an Polen bzw. Belgien richten und die Überstellung dieser Personen in diese Mitgliedstaaten in die Wege leiten können. In der Tat hat das Bundesamt ein solches Gesuch in der Rechtssache C‑202/23 gestellt. Prima facie mag es daher unnötig erscheinen, wenn den Mitgliedstaaten unter diesen Umständen die Möglichkeit gegeben wird, noch ein weiteres Instrument (nämlich den in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Unzulässigkeitsgrund) anzuwenden.

43.      Wie ich jedoch jetzt erläutern werde (und wie der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens veranschaulicht), können für die Durchführung von „Wiederaufnahmeverfahren“ Hindernisse bestehen. Außerdem hat der Unionsgesetzgeber klargestellt, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, von diesen Verfahren Gebrauch zu machen.

2.      „Wiederaufnahmeverfahren“ als Teillösung

44.      „Wiederaufnahmeverfahren“ sind in folgenden Fällen erfolglos. Erstens kann die Frist für die Stellung eines „Wiederaufnahmegesuchs“ an den zuständigen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) von dem Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller einen „Folgeantrag“ gestellt hat (Mitgliedstaat B), versäumt werden(10). Ist dies der Fall ist, wird anstelle von Mitgliedstaat A Mitgliedstaat B für die Prüfung des „Folgeantrags“ der betreffenden Person zuständig(11). Zweitens kann, falls das „Wiederaufnahmegesuch“ von Mitgliedstaat B rechtzeitig gestellt wird, der ersuchte Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) die Wiederaufnahme der betreffenden Person ablehnen, beispielsweise mit der Begründung, dass er in Wahrheit nicht der für seine Prüfung zuständige Mitgliedstaat ist(12). Dies ist in der Tat das, was in der Rechtssache C‑123/23 geschehen ist: Das Bundesamt richtete zunächst ein Wiederaufnahmegesuch an die zuständigen spanischen Behörden, die es ablehnten, weil sie sich für die Prüfung der Anträge von N. A. K. und ihren Kindern als nicht zuständig ansahen, da diese Personen in der Zwischenzeit in Belgien Asyl beantragt hatten und ihre Ansprüche von den belgischen Behörden geprüft wurden. Drittens kann, selbst wenn Mitgliedstaat A der Wiederaufnahme des Antragstellers zustimmt, Mitgliedstaat B möglicherweise dennoch seine Rücküberstellung in Mitgliedstaat A unter Einhaltung der Fristen nach Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung versäumen. In diesem Fall ist Mitgliedstaat A nicht mehr zur Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf Mitgliedstaat B über(13). Dies ist das, was in der Rechtssache C‑202/23 geschehen ist: Das Bundesamt konnte M. E. O. innerhalb der geltenden Frist nicht nach Polen rücküberstellen (weil er flüchtig war) und wurde somit für die Prüfung seines Antrags zuständig.

45.      Ferner sind die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, von Wiederaufnahmeverfahren Gebrauch zu machen. Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung regelt nämlich lediglich, dass Mitgliedstaat B Mitgliedstaat A um Wiederaufnahme der betreffenden Person „[ersuchen] kann“(14). Außerdem erlaubt es die in Art. 17 Abs. 1 der Verordnung niedergelegte „Ermessensklausel“ jedem Mitgliedstaat, zu beschließen, „einen bei ihm … gestellten Antrag auf internationalen Schutz“ zu prüfen. Dem Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑123/23 ist zu entnehmen, dass die Bundesrepublik Deutschland sich nach Ablehnung ihres „Wiederaufnahmegesuchs“ an die spanischen Behörden nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung für zuständig erklärt hat, die in Deutschland gestellten Anträge von N. A. K. und ihren Kindern zu prüfen. Sie hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, sie habe von dieser Bestimmung deshalb Gebrauch gemacht, weil es für sie zu jenem Zeitpunkt jedenfalls schon zu spät gewesen sei, um rechtzeitig ein weiteres „Wiederaufnahmegesuch“ an die belgischen Behörden zu richten.

46.      In allen von mir soeben dargestellten Fällen kann die Zuständigkeit für die Prüfung eines Antrags daher von dem Mitgliedstaat, in dem dieselbe betreffende Person zuvor Asyl beantragt hatte, Mitgliedstaat A (vorliegend Belgien und Polen), auf den Mitgliedstaat, in dem ein solcher Antrag gestellt wird, Mitgliedstaat B (vorliegend Deutschland), übergehen (und dies war in den Ausgangsverfahren in der Tat der Fall).

47.      Vor diesem Hintergrund sind die in der Rechtssache C‑123/23 vorgelegte Frage und die vier Fragen in der Rechtssache C‑202/23 zu prüfen.

B.      Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 als ergänzendes Instrument?

48.      In den folgenden Abschnitten werde ich darlegen, warum Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens dahin auszulegen ist, dass sie in dem Fall, dass anstelle von Mitgliedstaat A Mitgliedstaat B (vorliegend Deutschland) der für die Prüfung des bei ihm gestellten Antrags zuständige Mitgliedstaat wird, nicht ausschließen, dass die Behörden von Mitgliedstaat B einen bei ihnen gestellten „Folgeantrag“ auch dann als unzulässig ablehnen können, wenn das Asylverfahren über einen früheren Antrag derselben Person nicht von diesen Behörden, sondern von denjenigen des Mitgliedstaats A durchgeführt wurde (2).

49.      Zuvor werde ich jedoch zunächst erläutern, warum meines Erachtens, unabhängig davon, ob diese Bestimmungen in einem solchen mitgliedstaatsübergreifenden Kontext Anwendung finden, ein Antrag, wie derjenige, der von M. E. O. in der Rechtssache C‑202/23 gestellt wurde, jedenfalls nicht gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 als unzulässig abgelehnt werden kann. Erste Voraussetzung für die Anwendbarkeit des in dieser Bestimmung enthaltenen Unzulässigkeitsgrundes ist nämlich, dass es sich um einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie handelt, was wiederum voraussetzt, dass die Behörden von Mitgliedstaat A eine „bestandskräftige Entscheidung“ über einen früheren Antrag der betreffenden Person erlassen haben. Wie ich erläutern werde, erfüllt ein Antrag wie derjenige von M. E. O. diese Anforderung nicht (1).

1.      Vorliegender Fall der Rechtssache C202/23: Erfordernis einer „bestandskräftigen Entscheidung“ über einen früheren Antrag (Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32)

50.      Das vorlegende Gericht gibt an, dass der von M. E. O. beim Bundesamt gestellte Antrag vom 2. März 2020 datiere und am 30. April 2020 registriert worden sei. Ferner sei das Asylverfahren in Polen über einen früheren Antrag von M. E. O. am 20. April 2020 nach Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32(15) mit der Begründung eingestellt worden, M. E. O. habe seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen. Dieses Verfahren hätte jedoch noch bis Januar 2021 wieder aufgenommen werden können.

51.      Insoweit erfasst der Begriff „Folgeantrag“ nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens die Fallkonstellation eines weiteren Antrags, der „nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag gestellt wird, auch in Fällen, in denen … die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Artikel 28 Absatz 1 [der Richtlinie] abgelehnt hat“. Somit stellt allein der Umstand, dass das Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person auf der Grundlage dieses Artikels abgeschlossen wurde und ein solcher Antrag stillschweigend von dieser Person zurückgenommen wurde, für sich genommen kein Hindernis dafür dar, einen später von ihr gestellten Antrag als „Folgeantrag“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen.

52.      Wie von der Kommission zu Recht vorgetragen, fällt ein Antrag in einer solchen Fallkonstellation jedoch nur dann unter die Definition eines „Folgeantrags“ in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32, wenn die Entscheidung zur Einstellung des früheren Asylverfahrens erstens von Mitgliedstaat A bis zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags der betreffenden Person in Mitgliedstaat B bereits erlassen wurde(16). Zweitens darf diese Person nicht mehr die Möglichkeit haben, dieses Verfahren wieder aufzunehmen (andernfalls kann diese Entscheidung nicht als bestandskräftig angesehen werden).

53.      Ich stimme mit der Kommission darin überein, dass ein Antrag wie derjenige, der von M. E. O. beim Bundesamt gestellt wurde, die vorgenannte erste Anforderung nicht erfüllt. Denn zu dem Zeitpunkt, als sein Antrag am 2. März 2020 von M. E. O. beim Bundesamt gestellt wurde, war die Entscheidung der polnischen Behörden zur Einstellung des Asylverfahrens über seinen früheren Antrag (die vom 20. April 2020 datiert) noch nicht einmal erlassen worden.

54.      Insoweit hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem M. E. O. seinen Antrag in Deutschland gestellt hat. Der maßgebende Zeitpunkt könne auch derjenige sein, zu dem dieser Antrag registriert worden sei, oder derjenige, zu dem das Bundesamt für seine Prüfung zuständig geworden sei (beide Zeitpunkte lägen nach dem Erlass der Entscheidung der polnischen Behörden zur Einstellung des bei ihnen anhängigen Asylverfahrens). Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass ein Antrag nach Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 nur dann als „Folgeantrag“ angesehen werden kann, wenn dieser Antrag „nach Erlass einer … Entscheidung über einen früheren Antrag [derselben Person] gestellt wird“(17). Nach meinem Verständnis bezieht sich die Formulierung „gestellt“ auf einen anderen Zeitpunkt als denjenigen, zu dem diese Behörde sich für seine Prüfung zuständig erklärt, und auch auf einen anderen als denjenigen, zu dem der Antrag registriert wird, also in der Rechtssache C‑202/23 auf den 2. März 2020 (das im Antrag von M. E. O. angegebene Datum). Die Handlung der „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz beinhaltet nämlich keine administrativen Förmlichkeiten(18). Diese Auslegung folgt insbesondere aus Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie, wonach dann, wenn „eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz [stellt], … die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung [erfolgt]“.

55.      Was die zweite Anforderung betrifft, die ich oben in Nr. 53 genannt habe, erfüllt meines Erachtens der von M. E. O. beim Bundesamt gestellte Antrag auch diese Anforderung nicht, weil das Verfahren vor den polnischen Behörden, als M. E. O. diesen Antrag stellte, von ihm noch bis zum 20. Januar 2021 wieder aufgenommen werden konnte.

56.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie zu verstehen ist, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Antragsteller nach einer ihm gegenüber ergangenen Entscheidung zur Einstellung des Asylverfahrens innerhalb eines Zeitraums von mindestens neun Monaten berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, und ein solcher Antrag „nicht nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft wird“(19). Da die Art. 40 und 41 der Richtlinie 2013/32 das für „Folgeanträge“ geltende Verfahren regeln, kann meines Erachtens ein Antrag, der vor Ablauf dieser Frist von mindestens neun Monaten gestellt wird (also zu einem Zeitpunkt, zu dem das Asylverfahren in Mitgliedstaat A noch wieder aufgenommen werden kann), unter keinen Umständen als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie angesehen werden(20).

57.      Aufgrund dieser Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vier Fragen in der Rechtssache C‑202/23 dahin zu beantworten, dass allein der Umstand, dass das Asylverfahren über einen von der betreffenden Person gestellten früheren Antrag auf internationalen Schutz durch eine Entscheidung zu seiner Einstellung abgeschlossen wurde, die auf der Grundlage von Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 erlassen wurde, für sich genommen kein Hindernis dafür darstellt, einen später von derselben Person gestellten Antrag als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie anzusehen. Ein solcher Antrag kann jedoch nicht als vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung umfasst angesehen werden, und der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltene Unzulässigkeitsgrund kann keine Anwendung finden, wenn die Entscheidung zur Einstellung des Asylverfahrens über den früheren Antrag noch nicht erlassen worden ist oder wenn die betreffende Person noch die Möglichkeit hat, dieses Verfahren wieder aufzunehmen. Insoweit bestimmt Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben [können]“, innerhalb derer das Verfahren wieder aufgenommen werden kann. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem nationalen Recht über die Festlegung dieser Frist zu entscheiden, solange sie das in dieser Bestimmung festgelegte Minimum von neun Monaten nicht unterschreitet.

58.      Klargestellt sei, dass in dem Fall, dass ein Asylbewerber einen Antrag auf internationalen Schutz in Mitgliedstaat B stellt, bevor die Entscheidung über die Einstellung des Asylverfahrens in Mitgliedstaat A erlassen worden oder die Frist für eine Wiederaufnahme dieses Verfahrens abgelaufen ist, Mitgliedstaat B keine andere Wahl hat, als entweder von dem in der Dublin‑III-Verordnung geregelten „Wiederaufnahmeverfahren“ Gebrauch zu machen oder sich selbst für die Prüfung des bei ihm gestellten Antrags (nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung) für zuständig zu erklären und die Ansprüche des Antragstellers in der Sache vollständig zu prüfen(21).

2.      Vorliegender Fall der Rechtssache C123/23: Anwendbarkeit des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Unzulässigkeitsgrundes in einem mitgliedstaatsübergreifenden Kontext

59.      Der in der Rechtssache C‑123/23 vorliegende Fall weist das von mir im vorstehenden Abschnitt dargestellte Problem nicht auf. Das vorlegende Gericht gibt an, dass zum Zeitpunkt der Stellung der Asylanträge beim Bundesamt durch N. A. K. und ihre Kinder das sie betreffende Asylverfahren in Mitgliedstaat A (Belgien) durch eine bestandskräftige, negative Entscheidung abgeschlossen worden sei. Die belgischen Behörden hätten nämlich die Ansprüche von N. A. K. und ihren Kindern mit einer Entscheidung abgelehnt, gegen die kein Rechtsmittel habe eingelegt werden können. Diese Behörden hätten daher eine „bestandskräftige Entscheidung“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q in Verbindung mit Art. 2 Buchst. e der Richtlinie 2013/32 erlassen, wonach eine „‚bestandskräftige Entscheidung[‘] eine Entscheidung darüber [bezeichnet], ob einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gemäß der Richtlinie [2011/95] die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist, und gegen die kein Rechtsbehelf … mehr eingelegt werden kann …“.

60.      Vor diesem Hintergrund hängt die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland, nachdem sie sich für die Prüfung der Anträge von N. A. K. und ihren Kindern für zuständig erklärt hat(22), den in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Unzulässigkeitsgrund anwenden kann, weiter davon ab, ob diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie voraussetzt, dass der frühere Antrag und der „Folgeantrag“ im selben Mitgliedstaat gestellt wurden.

61.      Um zu erläutern, warum diese Bestimmungen meines Erachtens eine solche Anforderung nicht vorschreiben, werde ich eine grammatikalische, systematische und teleologische Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 vornehmen.

a)      Grammatikalische Auslegung

62.      Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 führt eine Reihe von Ausnahmen von der grundsätzlich geltenden Regel auf, wonach die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten Anträge auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen haben(23). Er sieht in Abs. 2 vor, dass ein Antrag auf internationalen Schutz „nur dann“ als unzulässig betrachtet werden „kann“, „wenn“ einer der in diesem Absatz aufgeführten Gründe greift. Ich verstehe diese Bestimmung zum einen dahin, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, einen Antrag für unzulässig zu erklären. Zum anderen steht es den Mitgliedstaaten nicht frei, weitere Unzulässigkeitsgründe in ihren Rechtsvorschriften vorzusehen(24).

63.      Unter diesen Umständen ist der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie enthaltene und für „Folgeanträge“ geltende Unzulässigkeitsgrund meines Erachtens eindeutig dahin zu verstehen, dass er einen sowohl fakultativen als auch abschließenden Grund für die Unzulässigerklärung solcher Anträge darstellt. Die Anwendbarkeit dieses Grundes in einem Kontext, in dem mehrere, am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem voll teilnehmende Mitgliedstaaten beteiligt sind, hängt somit davon ab, ob der Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 weit genug ist, um diese Möglichkeit einzuschließen.

64.      Insoweit weist in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens nichts darauf hin, dass das Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person, das mit einer bestandskräftigen Entscheidung abgeschlossen wurde, notwendigerweise von demselben Mitgliedstaat durchgeführt worden sein muss, in dem diese Person später Asyl beantragt. Diese Bestimmung enthält nämlich zwei ausdrückliche Voraussetzungen, und zwar zum einen, dass es sich um einen „Folgeantrag“ handelt, und zum anderen, dass „keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“. Sie enthält keine Angabe dazu, wo dieses Asylverfahren durchgeführt worden sein muss – eine Problematik, die meines Erachtens die erste Voraussetzung betrifft. Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie ist insoweit ebenso wenig eindeutig.

65.      Wie oben in der Einleitung bereits ausgeführt, hat der Gerichtshof die erste in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Voraussetzung dahin ausgelegt, dass sie der Einstufung eines Antrags als „Folgeantrag“ dann entgegenstehen, wenn er gestellt wird, nachdem ein Antrag derselben Person von einem Drittstaat (Norwegen) oder von einem an die Dublin‑III-Verordnung, nicht aber an die vorgenannte Richtlinie oder die Richtlinie 2011/95 gebundenen Mitgliedstaat (Dänemark) geprüft worden ist. Diese Schlussfolgerung hat er darauf gestützt, dass die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person von einem Staat erlassen worden sein muss, der an die letztgenannte Richtlinie gebunden ist. Der Gerichtshof hat jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass seine Schlussfolgerung „unbeschadet der davon zu unterscheidenden Frage [gilt], ob der Begriff ‚Folgeantrag‘ auf einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz anwendbar ist, der in einem Mitgliedstaat gestellt wird, nachdem ein anderer Mitgliedstaat[, der durch diese Richtlinie gebunden ist,] einen früheren Antrag durch eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt hat“(25). Diese Frage hat er somit offengelassen.

66.      Was ferner die zweite in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Voraussetzung angeht, hat der Gerichtshof in einem Kontext, in dem er um eine Stellungnahme zur Bedeutung des Begriffs „neue Umstände oder Erkenntnisse“ im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 ersucht wurde, festgestellt, dass die Fälle, in denen diese Richtlinie verlangt, einen „Folgeantrag“ als zulässig zu betrachten, weit auszulegen sind(26). Er hat insoweit noch einmal darauf hingewiesen, dass die Behörden der Mitgliedstaaten, außer in den Fällen, die unter die in Art. 33 Abs. 2 dieses Instruments aufgeführten Gründe fallen, wie oben in Nr. 62 bereits ausgeführt, verpflichtet sind, Anträge auf internationalen Schutz in der Sache zu prüfen. Jenes Urteil ist jedoch nur in geringem Umfang relevant für die in den vorliegenden Rechtssachen aufgeworfene Problematik. Aus diesen Schlussfolgerungen des Gerichtshofs kann nämlich nicht hergeleitet werden, dass eine in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 nicht ausdrücklich vorgesehene Anforderung (nämlich dass ein Antrag nur dann als „Folgeantrag“ für unzulässig erklärt werden kann, wenn er in einem Mitgliedstaat gestellt wird, der eine bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person erlassen hat), die nicht die zweite, sondern die erste in dieser Vorschrift vorgesehene Voraussetzung betrifft, tatsächlich in diese hineinzulesen ist.

67.      Ich schließe diesen Abschnitt mit dem Hinweis ab, dass der Gerichtshof, wenngleich in einem besonderen Fall(27), der nicht Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32, sondern die entsprechende Bestimmung der vor Inkrafttreten der Richtlinie 2013/32 geltenden Richtlinie 2005/85/EG betraf(28), bereits festgestellt hat, dass ein Antrag, der in einem Mitgliedstaat gestellt wurde, nachdem ein von derselben Person gestellter früherer identischer Antrag in einem anderen (ersten) Mitgliedstaat durch eine rechtskräftige Entscheidung abgelehnt worden war, von diesem zweiten Mitgliedstaat für unzulässig erklärt werden konnte(29).

68.      Aufgrund dieser Erwägungen stimme ich mit der Bundesrepublik Deutschland darin überein, dass der Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 weit genug ist, um die Möglichkeit einzuschließen, dass der in der ersten dieser Bestimmungen enthaltene Unzulässigkeitsgrund in einem Kontext, an dem mehrere, am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem voll teilnehmende Mitgliedstaaten beteiligt sind, anwendbar ist. Gleichzeitig lässt meines Erachtens indes der Wortlaut dieser Bestimmungen allein noch nicht den Schluss zu, dass diese Möglichkeit besteht; deshalb werde ich jetzt eine systematische und teleologische Auslegung eben dieser Bestimmungen vornehmen.

b)      Systematische und teleologische Auslegung

69.      Eine systematische und teleologische Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 spricht meines Erachtens dafür, dass diese Bestimmungen Anwendung finden können, wenn die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person von einem am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem voll teilnehmender Mitgliedstaat erlassen wurde, der jedoch nicht der Mitgliedstaat ist, in dem diese Person aktuell um Asyl nachsucht.

70.      Erstens sind diese Bestimmungen in Verbindung mit Art. 40 der Richtlinie 2013/32 zu verstehen, der in seinen Abs. 2 bis 5 das für „Folgeanträge“ allgemein geltende Verfahren regelt. Keiner dieser Absätze enthält einen Hinweis darauf, dass der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie enthaltene Unzulässigkeitsgrund (oder auch der in Art. 2 Buchst. q der Richtlinie definierte Begriff „Folgeantrag“) ausschließlich auf Fälle zu beschränken ist, in denen Folgeanträge im selben Mitgliedstaat gestellt werden. Hinzuweisen ist vor allem darauf, dass Art. 40 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32 lediglich vorsieht, dass „ein Folgeantrag [wenn er] nach diesem Artikel nicht weiter geprüft [wird], … gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d als unzulässig betrachtet [wird]“.

71.      Diese Feststellung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Art. 40 der Richtlinie 2013/32 einen weiteren Absatz (Abs. 1) enthält, in dem konkret von „in demselben Mitgliedstaat“ gestellten „Folgeanträgen“ die Rede ist. Dieser Absatz ist nämlich keine Vorschrift mit allgemeiner Bedeutung, die, wie Art. 40 Abs. 2 bis 5, für alle Fälle gelten soll, in denen ein Antrag als „Folgeantrag“ angesehen werden kann. Wie der Gerichtshof kürzlich bestätigt hat, betrifft dieser Absatz vielmehr, soweit er auf Folgeanträge anwendbar ist, nämlich den ganz spezifischen Fall, dass das nationale Recht es ausnahmsweise erlaubt, das Verfahren, nach dem der frühere Antrag endgültig abgelehnt wurde, wegen des Vorliegens eines Folgeantrags wiederzueröffnen(30).

72.      Für diese begrenzte Bedeutung von Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 spricht auch Abs. 7 dieses Artikels. Dieser Absatz findet auf den Fall Anwendung, dass eine Person, gegen die ein Überstellungsbeschluss (nach Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung) zu vollstrecken ist, in dem überstellenden Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt. Dass die von Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 erfasste Situation von der von Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie erfassten abweicht, bestätigt, dass diese Bestimmung lediglich eine lex specialis ist(31).

73.      Jedenfalls macht Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens deutlich(32), dass sich der Begriff „Folgeantrag“ im Sinne der Definition in Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie nicht auf einen Antrag beschränkt, der in demselben Mitgliedstaat wie demjenigen gestellt wird, in dem ein früherer Antrag derselben Person gestellt wurde. Vielmehr wird dieser Begriff in Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 für einen Antrag verwendet, der in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich dem überstellenden Mitgliedstaat, gestellt wird(33).

74.      Zweitens ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit den anderen, in Art. 33 Abs. 2 dieser Richtlinie enthaltenen Unzulässigkeitsgründen, insbesondere Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie, zu verstehen. Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten einen Antrag mit der Begründung für unzulässig erklären, dass „ein anderer Mitgliedstaat [der betreffenden Person bereits] internationalen Schutz gewährt hat“. Auch wenn Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 eindeutig eine andere tatsächliche Fallkonstellation betrifft als Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie (nämlich diejenige, dass ein anderer Mitgliedstaat einen früheren Antrag derselben Person positiv, nicht negativ, beschieden hat), scheint mir die „Grenze“ zwischen dem jeweiligen Anwendungsbereich dieser beiden Bestimmungen nicht immer eindeutig zu sein.

75.      Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 ist vom Gerichtshof nämlich bereits auf teilweise negative Entscheidungen angewendet worden. Im Urteil Ibrahim u. a.(34) hat der Gerichtshof entschieden, dass der in dieser Vorschrift enthaltene Unzulässigkeitsgrund vom Bundesamt angewendet werden konnte, um Anträge von Personen, denen in einem anderen Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz gewährt, nicht aber die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, für unzulässig zu erklären. Er stellte fest, dass „diese Bestimmung die zuvor in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2005/85 vorgesehene Befugnis, die eine solche Zurückweisung nur gestattete, wenn dem Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war[, erweitert]“.

76.      Der Gerichtshof betonte in jenem Urteil, dass in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 (der, wie ich gerade erläutert habe, die Mitgliedstaaten berechtigt, einen Antrag als unzulässig abzulehnen, den ein Antragsteller gestellt hat, nachdem ein anderer Mitgliedstaat es im Wesentlichen abgelehnt hat, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen) der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt(35). Vor diesem Hintergrund bringt die Kommission jedoch vor, dass, wenn zugelassen würde, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d auf mitgliedstaatsübergreifende Sachverhalte Anwendung finden könnte, dies nicht mehr nur Ausdruck des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, sondern vielmehr gleichbedeutend mit der gegenseitigen Anerkennung negativer Asylentscheidungen wäre. Eine solche gegenseitige Anerkennung dürfe nur in Fällen möglich sein, in denen der Unionsgesetzgeber sie ausdrücklich vorgesehen habe.

77.      Dieser Ansicht bin ich nicht.

78.      Ich stimme vielmehr mit der Bundesrepublik Deutschland darin überein, dass die Argumentation der Kommission einen wichtigen Gesichtspunkt außer Acht lässt. Die gegenseitige Anerkennung negativer Asylentscheidungen würde meines Erachtens ein hohes Maß an „Automatisierung“ voraussetzen und erfordern, dass eine von den Behörden eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung Bindungswirkung für die Behörden eines anderen Mitgliedstaats entfaltet, die grundsätzlich verpflichtet wären, sie anzuerkennen und in gleicher Weise durchzusetzen, als ob es sich um ihre eigene handelte(36). Ich stimme damit überein, dass es schwierig sein könnte, den Behörden der Mitgliedstaaten ohne ausdrückliche primärrechtliche Bestimmung oder ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers solche Verpflichtungen vorzuschreiben(37).

79.      Wie jedoch oben in Nr. 62 ausgeführt, macht der Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 deutlich, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, einen Antrag gemäß dieser Vorschrift für unzulässig zu erklären(38). Entschiede der Gerichtshof sich für die ihm von mir vorgeschlagene Lösung, hätte dies zur Folge, dass es Mitgliedstaat B (sofern er nach den Kriterien der Dublin‑III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat ist) in dem Fall, dass er mit einem „Folgeantrag“ befasst wird, der gestellt wird, nachdem das Asylverfahren über einen früheren Antrag derselben Person in Mitgliedstaat A durch eine bestandskräftige Entscheidung abgeschlossen wurde, freistünde, die mit diesem Folgeantrag geltend gemachten Ansprüche in der Sache vollständig zu prüfen, ohne an irgendeine Entscheidung gebunden zu sein, die ein Mitgliedstaat über einen früheren Antrag derselben Person erlassen hat.

80.      Daher bin ich der Ansicht, dass eine Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 dahin, dass er, ebenso wie Art. 33 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie auf mitgliedstaatsübergreifende Sachverhalte Anwendung finden könnte, nicht zur Einführung eines Systems der gegenseitigen Anerkennung führen würde, in dem Mitgliedstaaten verpflichtet wären, Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten anzuerkennen und durchzusetzen. Eine solche Auslegung würde allenfalls bestätigen, dass in dem in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltenen Unzulässigkeitsgrund ebenfalls der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zum Ausdruck kommt. Sie würde damit übereinstimmen, dass der Unionsgesetzgeber das mit Art. 78 Abs. 2 Buchst. a AEUV verfolgte Ziel eines unionsweit gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige noch nicht durch die Normierung eines Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen über die Zuerkennung (oder Ablehnung) der Flüchtlingseigenschaft zwischen den Mitgliedstaaten und die Regelung der Modalitäten zur Umsetzung dieses Grundsatzes vollständig verwirklicht hat(39).

81.      Drittens würde die von mir vorgeschlagene Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens zu dem Ziel der Eindämmung der „Sekundärmigration“ zwischen Mitgliedstaaten beitragen. Dieses Ziel, das dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem insgesamt zugrunde liegt, findet im 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 konkreten Ausdruck.

82.      Wie von der Kommission und der französischen Regierung hervorgehoben, hat die Einstufung eines Antrags als „Folgeantrag“ bestimmte Folgen für den Antragsteller. Ein solcher Antrag kann nicht nur nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklärt werden, sondern auf ihn kann (sofern er nicht als unzulässig abgelehnt wird)(40) auch ein beschleunigtes Verfahren angewendet werden(41). Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Recht des Antragstellers auf Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet machen(42). Schließlich kann ein „Folgeantrag“ bei Abschluss eines beschleunigten Verfahrens als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden; in diesem Fall kann von den Mitgliedstaaten die Gewährung einer Frist für eine freiwillige Ausreise verweigert und die Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot verbunden werden(43).

83.      Was geschieht also, wenn diese Folgen nur bei „Folgeanträgen“ eintreten können, die im selben Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) gestellt werden, und niemals bei solchen, die in einem anderen Mitgliedstaat (Mitgliedstaat B) gestellt werden, nachdem der Antragsteller eine „Sekundärmigration“ vollzieht, indem er sich von Mitgliedstaat A in Mitgliedstaat B begibt? Der Antragsteller, der eine solche „Sekundärmigration“ vollzieht, kommt tatsächlich in den Genuss einer günstigeren Behandlung als derjenige, der „sich an die Regeln hält“ und im zuständigen Mitgliedstaat bleibt. Er kann letztlich in Mitgliedstaat B noch einmal „ganz neu“ anfangen, da dieser Mitgliedstaat verpflichtet ist, seinen Antrag in der Sache vollständig zu prüfen. Im Großen und Ganzen bestände für Asylbewerber daher ein Anreiz, sich von Mitgliedstaat A in Mitgliedstaat B zu begeben, sobald ihnen gegenüber in Mitgliedstaat A eine negative Entscheidung ergangen ist. Sie könnten sogar davon absehen, gegen diese Entscheidung in Mitgliedstaat A einen Rechtsbehelf einzulegen, und sie bestandskräftig werden lassen (da ihnen dies den Weg zur Einleitung eines neuen Verfahrens in Mitgliedstaat B eröffnet). Um ihre Aussichten auf eine vollständige neue Prüfung ihrer Situation zu maximieren, könnte für Asylbewerber ferner ein Anreiz bestehen, in so vielen anderen Mitgliedstaaten wie möglich „neue“ Anträge zu stellen(44).

84.      Unter solchen Umständen würde die Sekundärmigration zweifellos gefördert und nicht eingedämmt. Wenn dagegen Mitgliedstaat B die Möglichkeit hat, einen bei ihm gestellten „Folgeantrag“ für unzulässig zu erklären, auch wenn die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person nicht von seinen Behörden, sondern von den Behörden von Mitgliedstaat A erlassen wurde, besteht für diese Person von vornherein ein erheblich geringerer Anreiz, Mitgliedstaat B zu erreichen.

85.      Viertens trägt die Auslegung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, noch zu einem weiteren Ziel der Richtlinie 2013/32 bei, nämlich, wie im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie angeführt, unter bestimmten Voraussetzungen den Verwaltungsaufwand für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zu verringern.

86.      Die „Sekundärmigration“ verursacht erheblichen Verwaltungsaufwand für die zuständigen nationalen Behörden der Mitgliedstaaten, insbesondere für diejenigen, bei denen ein „Folgeantrag“ gestellt wird und die den Antragsteller nicht an den Mitgliedstaat zurücküberstellen können, der das Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person durchgeführt hat.

87.      Um auf die verschiedenen Fallkonstellationen zurückzukommen, die ich in den Nrn. 44 bis 47 dargestellt habe, kann das mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführte „Wiederaufnahmeverfahren“ zwar in bestimmten Fällen scheitern und die Zuständigkeit für die Prüfung des „Folgeantrags“ von Mitgliedstaat A auf Mitgliedstaat B übergehen, weil Mitgliedstaat B selbst ein „Hindernis“ für die Durchführung dieses Verfahrens schafft (z. B. wenn er versäumt, rechtzeitig ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen) oder sich selbst für seine Prüfung für zuständig erklärt. In anderen Fällen kann der Grund für das Scheitern des Wiederaufnahmeverfahrens jedoch der Kontrolle von Mitgliedstaat B entzogen sein(45). Es liegt nahe, dass es unverhältnismäßig wäre, von Mitgliedstaat B zu verlangen, in allen Fällen, in denen bei ihm ein „Folgeantrag“ gestellt wird, diesen Antrag in der Sache vollständig neu zu prüfen.

88.      Schließlich ist vor Abschluss des vorliegenden Abschnitts noch auf das Vorbringen der französischen Regierung hinzuweisen, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit dem 36. Erwägungsgrund der Richtlinie zu verstehen sei, nach dessen Satz 2 die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, „Folgeanträge“ für unzulässig zu erklären, mit dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) verknüpft werde. Der Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) sei ausschließlich auf rein innerstaatliche Sachverhalte eines Mitgliedstaats anwendbar. Somit könne der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltene Unzulässigkeitsgrund nur den Fall betreffen, dass die bestandskräftige negative Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person von demselben Mitgliedstaat wie demjenigen getroffen worden sei, in dem der „Folgeantrag“ gestellt werde.

89.      Ich stimme mit der französischen Regierung nicht darin überein, dass dieses Ergebnis allein daraus zu folgern sein soll, dass im 36. Erwägungsgrund Satz 2 der Richtlinie 2013/32 auf den Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) verwiesen wird.

90.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass, wie in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags)(46) erläutert, dieser Grundsatz nicht in jedem Fall, in dem ein Folgeantrag gestellt wird, notwendigerweise eine Rolle spielen muss. Der Grundsatz der Rechtskraft greift nämlich nur, wenn eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist. Selbst bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt kann das Verfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person durch eine einfache Verwaltungsentscheidung der zuständigen Behörden abgeschlossen worden sein, gegen die nicht rechtzeitig ein Rechtsbehelf bei einem Gericht eingelegt wurde. In diesen Fällen kann der Grundsatz der Rechtskraft keine Anwendung finden, weil es keine gerichtliche Entscheidung gibt, aus der sich seine Geltung ergibt(47). Demzufolge sollte die Bedeutung dieses Grundsatzes im Rahmen der Anwendung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 nicht überbewertet werden, da er selbst bei rein innerstaatlichen Sachverhalten nicht für alle Fälle gilt, in denen ein „Folgeantrag“ für unzulässig erklärt werden kann.

91.      Zu ergänzen ist, dass dieser Gedanke in Satz 1 des 36. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2013/32 bereits zum Ausdruck kommt. Dieser Satz sieht nämlich – in einer Formulierung, die weiter gefasst ist als diejenige in Satz 2 dieses Erwägungsgrundes – vor, dass es dann, „[wenn] der Antragsteller einen Folgeantrag [stellt], ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, … unverhältnismäßig [wäre], die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten“. Entgegen der Ansicht der französischen Regierung spricht somit meines Erachtens der Verweis auf den Grundsatz der Rechtskraft in Satz 2 des 36. Erwägungsgrundes der Richtlinie 20213/32 nicht für die Schlussfolgerung, dass der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie enthaltene Unzulässigkeitsgrund nur anwendbar ist, wenn das Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person im selben Mitgliedstaat wie demjenigen durchgeführt wurde, in dem der „Folgeantrag“ gestellt wird.

c)      Zwischenergebnis

92.      Im Licht aller von mir dargestellten Gesichtspunkte ist Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 meines Erachtens dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage dieser Bestimmungen einen bei ihm gestellten „Folgeantrag“ in dem Fall, dass anstelle von Mitgliedstaat A Mitgliedstaat B der für die Prüfung des bei ihm gestellten Antrags (nach den Kriterien der Dublin‑III-Verordnung) zuständige Mitgliedstaat wird, als unzulässig ablehnen kann, selbst wenn ein Asylverfahren über einen früheren Antrag derselben Person durch eine bestandskräftige Entscheidung in Mitgliedstaat A abgeschlossen worden ist. Diese Lösung würde zumindest zu zwei mit dieser Verordnung verfolgten Zielen beitragen, nämlich erstens, die „Sekundärmigration“ einzudämmen, und zweitens, den Verwaltungsaufwand für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen zu verringern. Außerdem würde sie dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens konkrete Wirkung verleihen, der, wie ausgeführt, Grundlage des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Meines Erachtens ist dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 oder sonstigen Bestimmungen dieser Richtlinie nichts zu entnehmen, was dieser Auslegung entgegenstände.

93.      Dies vorausgeschickt, bleibt darzulegen, warum die Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, nicht zulasten des Schutzes der Rechte von Antragstellern geht und auch die Wirksamkeit des „Wiederaufnahmeverfahrens“ nicht zu beeinträchtigen droht.

d)      Bedeutung der Wahrung der Rechte von Antragstellern und Wirksamkeit des „Wiederaufnahmeverfahrens“

94.      Die französische Regierung macht in Bezug auf die von mir oben in Nr. 81 dargestellten Erwägungen geltend, dass die von der Bundesrepublik Deutschland vertretene Auslegung die angemessene und vollständige Prüfung des Falls des Antragstellers verhindern könnte, auf deren Bedeutung der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung stets hingewiesen habe(48). Die Kommission vertritt einen ähnlichen Standpunkt und weist ihrerseits darauf hin, dass es praktische Hindernisse für den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten gebe. Es könne für Mitgliedstaat B möglicherweise schwierig sein, alle wesentlichen Umstände zu seiner Verfügung zu haben, auf denen die bestandskräftige negative Entscheidung von Mitgliedstaat A beruhe, und somit zu beurteilen, ob „neue Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“. Die Anfälligkeit für Fehler der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten könne daher bei mitgliedstaatsübergreifenden Sachverhalten größer sein als bei rein innerstaatlichen Sachverhalten.

95.      Ich stimme sowohl mit der französischen Regierung als auch mit der Kommission darin überein, dass die Rechte der Antragsteller nicht im Namen der Ziele der Eindämmung der „Sekundärmigration“ oder der Verringerung des Verwaltungsaufwands für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten preisgegeben werden dürfen. Wie in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags)(49) ausgeführt, ist klar, dass der Unionsgesetzgeber beim Erlass der Bestimmungen über „Folgeanträge“ nicht nur auf eine „Verringerung“ der Arbeitsbelastung dieser Behörden bedacht war, sondern stets auch auf die Gewährleistung eines hinreichend hohen Schutzniveaus für die Asylbewerber (indem ihnen effektiver Zugang zu einer angemessenen Prüfung ihres Falls gewährleistet wird)(50)und auf die Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung, der besagt, dass niemand dorthin zurückgeschickt werden darf, wo er Verfolgung ausgesetzt ist(51).

96.      Meines Erachtens ist die Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, jedoch mit diesen anderen Zielen vereinbar, und zwar aus mehreren Gründen.

97.      Insoweit ist zunächst Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung zu nennen. Diese Bestimmung soll den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern, indem ihnen eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit auferlegt wird. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung „[übermittelt j]eder Mitgliedstaat … jedem Mitgliedstaat, der dies beantragt, personenbezogene Daten über den Antragsteller, die sachdienlich und relevant sind und nicht über das erforderliche Maß hinausgehen“, u. a. für die Zwecke der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz. Nach Abs. 2 Buchst. g dieses Artikels gehört zu den in Abs. 1 genannten Informationen „der Stand des Verfahrens und der Tenor der gegebenenfalls getroffenen Entscheidung“.

98.      In der mündlichen Verhandlung hat die Bundesrepublik Deutschland erklärt, dass die belgischen Behörden dem Bundesamt in der Rechtssache C‑123/23 auf sein „Informationsersuchen“ gemäß Art. 34 der Dublin‑III-Verordnung hin vollständigen Zugang zu der von ihnen getroffenen Entscheidung in Bezug auf die früheren Anträge von N. A. K. und ihren Kindern gewährt hätten. Unter diesen Umständen ist es Mitgliedstaat B entgegen der Ansicht der Kommission meines Erachtens durchaus möglich, alle wesentlichen Umstände zu seiner Verfügung zu haben, auf denen die bestandskräftige negative Entscheidung von Mitgliedstaat A beruhte.

99.      Dies vorausgeschickt, stimme ich mit der Kommission darin überein, dass das hohe Schutzniveau, das Asylbewerbern gewährleistet werden muss, nicht erreicht werden könnte, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats einen „Folgeantrag“ auch in Fällen für unzulässig erklären könnten, in denen sie keinen Zugang zu allen Umständen haben, auf denen die bestandskräftige negative Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person beruhte.

100. Insoweit hat die Bundesrepublik Deutschland in der mündlichen Verhandlung jedoch zu Recht vorgebracht, dass dann, wenn Informationen über das in Mitgliedstaat A durchgeführte Asylverfahren fehlten, die Rechte der Antragsteller gleichwohl geschützt würden, weil Mitgliedstaat B ihre Folgeanträge de facto für zulässig erklären müsse. Unter solchen Umständen wird dieser Mitgliedstaat nämlich nicht ausschließen können, dass „neue Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“ und dass die zweite der beiden in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen ausdrücklichen Voraussetzungen(52) nicht erfüllt ist.

101. Ich erinnere daran, dass, wie ich in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags)(53)ausgeführt habe, Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten zwar befugt sind, Folgeanträge als unzulässig abzulehnen, diese Möglichkeit den zuständigen nationalen Behörden jedoch nur dann offensteht, wenn keine „neuen Umstände oder Erkenntnisse“ zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Jede Ungewissheit darüber, ob diese Voraussetzung erfüllt ist (sei es wegen eines Informationsdefizits oder aus einem anderen Grund), muss zugunsten der betreffenden Person ausgelegt werden und zur Zulässigkeit des „Folgeantrags“ führen.

102. Anders als die Kommission stimme ich daher mit der Bundesrepublik Deutschland weitgehend darin überein, dass Informationsdefizite in Bezug auf das frühere in einem ersten Mitgliedstaat (Mitgliedstaat A) durchgeführte Asylverfahren keine negativen Auswirkungen auf die Behandlung des „Folgeantrags“ dieser Person in einem zweiten Mitgliedstaat (Mitgliedstaat B) haben können. Dies ist eine wichtige Einschränkung, durch die die Möglichkeit der Behörden dieses Mitgliedstaats, diesen Antrag gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären, bedingt wird.

103. Meines Erachtens gibt es eine zweite Einschränkung, die sich ebenfalls aus der Voraussetzung ergibt, dass „keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“.

104. Wie oben in Nr. 66 bereits ausgeführt, hat der Gerichtshof den Begriff „neuer Umstand“ in seinem kürzlich ergangenen Urteil Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags)(54) weit ausgelegt. Er hat nämlich bestätigt, dass dieser Begriff nicht nur tatsächliche Umstände, sondern auch rechtliche Umstände umfasst, einschließlich eines Urteils des Gerichtshofs, das in der früheren Entscheidung nicht berücksichtigt wurde, und zwar unabhängig davon, ob dieses Urteil vor oder nach Erlass der Entscheidung über den früheren Antrag ergangen ist.

105. Aus diesem Urteil(55) folgt meines Erachtens, dass die Gerichte oder die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats B jedenfalls daran gehindert sind, einen bei ihnen gestellten „Folgeantrag“ gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 als unzulässig abzulehnen, wenn sie Zweifel im Hinblick darauf haben, ob die bestandskräftige Entscheidung, mit der Mitgliedstaat A einen früheren Antrag derselben Person abgelehnt hat, ein Urteil des Gerichtshofs unberücksichtigt gelassen hat, das für die Frage von Bedeutung ist, ob der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. Dies ist eine weitere wichtige Einschränkung, die dazu beiträgt, ein hohes Schutzniveau für Asylbewerber zu gewährleisten.

106. Entgegen der Ansicht der französischen Regierung und der Kommission wird unter diesen Umständen meines Erachtens mit der Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit der Eindämmung der „Sekundärmigration“ und der Verringerung des Verwaltungsaufwands für die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten einerseits und der Bedeutung der Gewährleistung des Schutzes der Rechte der Antragsteller andererseits hergestellt.

107. Schließlich muss ich diesen Beteiligten darin zustimmen, dass Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 nicht in der von mir vorgeschlagenen Weise ausgelegt werden könnte, wenn diese Auslegung dem „Wiederaufnahmeverfahren“ (dessen wesentliche Komponenten ich oben in Abschnitt A.1 dargestellt habe) seinen Zweck oder Nutzen nähme.

108. Insoweit weise ich jedoch erstens darauf hin, dass die Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, nur dann zur Anwendung kommen soll, wenn Mitgliedstaat B anstelle von Mitgliedstaat A zum zuständigen Mitgliedstaat wird – d. h. nur in den Fällen, in denen die Dublin‑III-Verordnung tatsächlich den Übergang der Zuständigkeit von Mitgliedstaat A auf Mitgliedstaat B zulässt und ein „Wiederaufnahmeverfahren“ nicht eingeleitet wird oder erfolglos ist. Diese Einschränkung wird durch Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 bestätigt, da diese Vorschrift bestimmt, dass die Mitgliedstaaten danach aufgrund der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a bis e dieser Richtlinie aufgeführten Unzulässigkeitsgründe Anträge auf internationalen Schutz in bestimmten Fällen für unzulässig erklären können, die zusätzlich neben diejenigen (aber nicht an ihre Stelle) treten, „in denen nach Maßgabe der [Dublin‑III-Verordnung] ein Antrag nicht geprüft wird“(56).

109. Zweitens kann meines Erachtens durch diese Lösung das in dieser Verordnung geregelte „Wiederaufnahmeverfahren“ nicht bedeutungs- oder nutzlos werden. Insoweit könnte Mitgliedstaat B es dann, wenn er mit einem „Folgeantrag“ befasst wird, der nach Erlass einer bestandskräftigen Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person in Mitgliedstaat A gestellt wird, zwar der Einfachheit halber vorziehen, die Komplikationen des „Wiederaufnahmeverfahrens“ (mit seinen verschiedenen Stufen und strengen Fristen) zu vermeiden, und stattdessen von der Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung Gebrauch machen. In einer solchen Fallkonstellation könnte Mitgliedstaat B sich zunächst für die Prüfung des „Folgeantrags“ für zuständig erklären und diesen Antrag dann gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 für unzulässig erklären, ohne zunächst ein „Wiederaufnahmegesuch“ zu stellen und von dem mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführten „Wiederaufnahmeverfahren“ und Überstellungsmechanismus Gebrauch zu machen(57).

110. Meines Erachtens kann jedoch nicht sicher davon ausgegangen werden, dass diese Fallkonstellation von Mitgliedstaat B zwangsläufig vorgezogen werden wird. Bevor die Behörden dieses Mitgliedstaats einen „Folgeantrag“ für unzulässig erklären können, müssen sie nach diesen Bestimmungen nämlich zunächst alle Stufen des konkreten, für „Folgeanträge“ geltenden Verfahrens, die in Art. 40 der Richtlinie 2013/32 geregelt sind, befolgen.

111. Insoweit müssen nach den Abs. 2 und 3 dieses Artikels, wie der Gerichtshof kürzlich bestätigt hat(58), die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags im Wesentlichen ein aus zwei Schritten bestehendes Verfahren befolgen. Erstens müssen sie den Folgeantrag einer ersten Prüfung unterziehen (Art. 40 Abs. 2). Bei dieser ersten Prüfung müssen sie feststellen, ob ein oder mehrere „neue Elemente“ betreffend die Frage vorliegen, ob die betreffende Person als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. Ist dies der Fall, wird sodann zweitens die Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags nach Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie fortgesetzt, wonach diese Behörden festzustellen haben, ob neue Elemente „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen“, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder Gewährung internationalen Schutzes anzuerkennen ist. In der Gesamtbetrachtung nimmt dieses Verfahren dennoch Zeit in Anspruch und erfordert administrative Ressourcen. Außerdem ist es mit einer Reihe von dem Antragsteller gegenüber bestehenden Pflichten des Mitgliedstaats sowie mit einer Reihe von Rechten, die dieser Antragsteller ausüben kann (einschließlich des Rechts auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Unzulässigkeitsentscheidung), verbunden(59).

112. Im Übrigen besteht stets die Möglichkeit, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten am Ende des in Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 geregelten Verfahrens zu dem Schluss kommen, dass der „Folgeantrag“ zulässig ist. Wenn nämlich ein oder mehrere „neue Elemente“ vorliegen, haben diese Behörden nicht die Möglichkeit, den Folgeantrag für unzulässig zu erklären. Vielmehr müssen sie ihn in der Sache prüfen und sicherstellen, dass diese Prüfung mit den in Kapitel II dieser Richtlinie aufgeführten Grundsätzen und Garantien im Einklang steht(60).

113. Aufgrund dieser Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Lösung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, die Wirksamkeit des in der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen „Wiederaufnahmeverfahrens“ nicht zu beeinträchtigen droht. Vielmehr könnte diese Lösung meines Erachtens tatsächlich zu einer Stärkung dieses Verfahrens in den Fällen führen, in denen Mitgliedstaat B von ihm Gebrauch macht.

114. Lassen Sie mich dies veranschaulichen. Hätte Mitgliedstaat B nicht die Möglichkeit, den „Folgeantrag“ eines Antragstellers, der zuvor in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz beantragt hat, gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären, könnte Mitgliedstaat B entweder erfolgreich ein „Wiederaufnahmeverfahren“ einleiten und den Antragsteller an Mitgliedstaat A rücküberstellen oder den Antrag in der Sache vollständig prüfen. Was würde der Antragsteller in dieser Fallkonstellation tun? Nach meiner Einschätzung würde er sich seiner Rücküberstellung in Mitgliedstaat A so weit wie möglich zu widersetzen versuchen, um seine Aussichten auf eine vollständige neue Prüfung seines Falls in Mitgliedstaat B im Fall des Scheiterns der Überstellung zu maximieren. Hätte Mitgliedstaat B dagegen die Möglichkeit, den „Folgeantrag“ gemäß diesen Bestimmungen für unzulässig zu erklären, wird der Antragsteller sich dem möglicherweise nicht in gleichem Maß widersetzen. Insgesamt könnten dadurch letztlich die Erfolgschancen des „Wiederaufnahmeverfahrens“ und des Überstellungsmechanismus, die der Unionsgesetzgeber mit der Dublin‑III-Verordnung eingeführt hat, erhöht werden.

115. Zuletzt möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass die Auslegung, die ich dem Gerichtshof vorschlage, den Mitgliedstaaten lediglich eine Möglichkeit eröffnet, Vorschriften zu erlassen, die bewirken, dass „Folgeanträge“ für unzulässig erklärt werden, die bei ihnen gestellt werden, nachdem ein früherer Antrag derselben Person durch eine endgültige Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat abgelehnt wurde (im Einklang mit den in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 niedergelegten Voraussetzung). Sie begründet keine Pflicht der Mitgliedstaaten, dies zu tun.

VI.    Ergebnis

116. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Verwaltungsgericht Minden (Deutschland) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes

ist dahin auszulegen, dass allein der Umstand, dass das Asylverfahren über einen von der betreffenden Person gestellten früheren Antrag auf internationalen Schutz durch eine Entscheidung zu seiner Einstellung abgeschlossen wurde, die auf der Grundlage von Art. 28 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 erlassen wurde, für sich genommen kein Hindernis dafür darstellt, einen später von derselben Person gestellten Antrag als „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie anzusehen. Ein solcher Antrag kann jedoch nicht als vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung umfasst angesehen werden, und der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 enthaltene Unzulässigkeitsgrund kann keine Anwendung finden, wenn die Entscheidung zur Einstellung des Asylverfahrens über den früheren Antrag noch nicht erlassen worden ist oder wenn die betreffende Person noch die Möglichkeit hat, dieses Verfahren wieder aufzunehmen. Insoweit bestimmt Art. 28 Abs. 2 dieser Richtlinie, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben [können]“, innerhalb derer das Verfahren wieder aufgenommen werden kann. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrem nationalen Recht über die Festlegung dieser Frist zu entscheiden, solange diese das in dieser Bestimmung festgelegte Minimum von neun Monaten nicht unterschreitet.

2.      Art. 33 Abs. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32

ist dahin auszulegen, dass diese Vorschriften zugrunde gelegt werden können, wenn ein anderer Mitgliedstaat als der Mitgliedstaat, der die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag der betreffenden Person auf internationalen Schutz erlassen hat, (nach den Kriterien der Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist), der für die Prüfung eines neuen Antrags dieser Person zuständige Mitgliedstaat wird. Der zuständige Mitgliedstaat kann den neuen Antrag auf der Grundlage dieser Bestimmungen mit der Begründung als unzulässig ablehnen, dass er einen „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q dieser Richtlinie darstellt und das Asylverfahren über den früheren Antrag der betreffenden Person bereits durch eine bestandskräftige Entscheidung in diesem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen worden ist. Diese Möglichkeit besteht jedoch nur unter der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzung, dass keine „neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“.


1      Originalsprache: Englisch.


i Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).


3      Vgl. Urteile vom 20. Mai 2021, L. R.  (Von Norwegen abgelehnter Asylantrag) (C‑8/20, im Folgenden: Urteil L. R. [Von Norwegen abgelehnter Asylantrag], EU:C:2021:404), und vom 22. September 2022, Bundesrepublik Deutschland (Von Dänemark abgelehnter Asylantrag) (C‑497/21, im Folgenden: Urteil Bundesrepublik Deutschland [Von Dänemark abgelehnter Asylantrag], EU:C:2022:721).


4      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung).


5      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


6      Vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 53).


7      Vgl. Art. 3 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung: „Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft“.


8      D. h. Bewegungen von Antragstellern von einem Mitgliedstaat in einen anderen, nachdem sie das Gebiet der Europäischen Union bereits erreicht haben, was möglicherweise u. a. durch Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen oder den Aufnahme- und Lebensbedingungen motiviert sein kann.


9      Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. a der Dublin‑III-Verordnung ist der zuständige Mitgliedstaat auch verpflichtet, einen Antragsteller nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 dieser Verordnung aufzunehmen (nicht wieder aufzunehmen), der vor der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat. Diese Situation entspricht jedoch nicht denjenigen, um die es in den Ausgangsverfahren geht.


10      Vgl. Art. 23 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, wonach ein „Wiederaufnahmegesuch“ innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung zu stellen ist. Stützt sich das Gesuch auf andere Beweismittel als Angaben aus dem Eurodac-System, ist es innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt der Stellung des „Folgeantrags“ zu stellen.


11      Vgl. Art. 23 Abs. 3 dieser Verordnung.


12      Vgl. Art. 25 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung. Wie in Art. 25 Abs. 2 der Verordnung geregelt, wird in dem Fall, dass Mitgliedstaat A das „Wiederaufnahmegesuch“ nicht rechtzeitig beantwortet, Mitgliedstaat B nicht zum zuständigen Mitgliedstaat. Vielmehr wird im Fall der Untätigkeit von Mitgliedstaat A davon ausgegangen, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird.


13      Vgl. Art. 29 Abs. 2 dieser Verordnung.


14      Hervorhebung nur hier. Daraus folgt, dass Mitgliedstaat B sich stets dafür entscheiden kann, kein „Wiederaufnahmeverfahren“ einzuleiten und einen bei ihm gestellten Antrag selbst zu prüfen. Diese Auslegung ist vom Gerichtshof bestätigt worden, der festgestellt hat, dass die Behörden eines Mitgliedstaats, bei dem ein neuer Antrag gestellt wird, die Möglichkeit (nicht die Verpflichtung) haben, nach Art. 23 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ein „Wiederaufnahmegesuch“ für die betreffende Person zu stellen (vgl. Urteil vom 5. Juli 2018, X, C‑213/17, EU:C:2018:538, Rn. 33).


15      Diese Bestimmung regelt im Wesentlichen, dass ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn die betreffende Person den Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt.


16      Diese Vorschrift setzt nämlich voraus, dass dieser Antrag „nach Erlass einer … Entscheidung über einen früheren Antrag“ gestellt wird.


17      Hervorhebung nur hier.


18      Vgl. hierzu meine Schlussanträge in der Rechtssache Valstybės sienos apsaugos tarnyba u. a.  (C‑72/22 PPU, EU:C:2022:431, Nrn. 57 und 58).


19      Hervorhebung nur hier.


20      Für diese Auslegung spricht auch Art. 18 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung, aus dem sich im Wesentlichen ergibt, dass dann, wenn der Antragsteller in Mitgliedstaat A (den Mitgliedstaat, der das Asylverfahren über einen früheren Antrag der betreffenden Person eingestellt hat) rücküberstellt wird, dieser Mitgliedstaat einen solchen „neuen“ Antrag nicht als „Folgeantrag“ (im Sinne der Richtlinie 2013/32) behandeln darf, sondern ihn zu prüfen hat.


21      Zu ergänzen ist, dass ein Antrag, der in Mitgliedstaat B vor Ablauf der für den Antragsteller geltenden Frist für die Wiederaufnahme des Asylverfahrens in Mitgliedstaat A über seinen früheren Antrag gestellt wird, niemals als „Folgeantrag“ angesehen werden kann. Der maßgebende Zeitpunkt ist, wie erläutert, der Zeitpunkt der Antragstellung. Mitgliedstaat B kann sich somit nicht darauf beschränken, den Ablauf dieser Frist abzuwarten, den Antrag dann als „Folgeantrag“ „umzudeuten“ und ihn gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 für unzulässig zu erklären.


22      Siehe oben, Nr. 45.


23      Vgl. 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32, der die Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge durch die zuständigen Behörden verlangt, und 43. Erwägungsgrund der Richtlinie, wonach „[d]ie Mitgliedstaaten … alle Anträge in der Sache prüfen [sollten], d. h. beurteilen [sollten], ob der betreffende Antragsteller … als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkannt werden kann“, sofern in dieser Richtlinie nichts anderes vorgesehen ist. Vgl. auch Urteil vom 8. Februar 2024, Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags) (C‑216/22, EU:C:2024:122, Rn. 34).


24      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags)  (C‑216/22, EU:C:2023:646, Nr. 31). Vgl. hierzu auch Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Vgl. Urteile L. R. (Von Norwegen abgelehnter Asylantrag) (Rn. 40) und Bundesrepublik Deutschland (Von Dänemark abgelehnter Asylantrag) (Rn. 46).


26      Vgl. Urteil vom 8. Februar 2024, Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags) (C‑216/22, EU:C:2024:122, Rn. 34 bis 37).


27      Nämlich, dass ein Antrag von einer minderjährigen Person in dem Mitgliedstaat, in dem sie sich aufhielt, gestellt wurde, nachdem ein von ihr gestellter identischer Antrag in einem anderen (ersten) Mitgliedstaat durch eine bestandskräftige Entscheidung abgelehnt worden war.


28      Vgl. Art. 25 der Richtlinie des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13).


29      Vgl. Urteil vom 6. Juni 2013, MA u. a. (C‑648/11, EU:C:2013:367, Rn. 63 und 64). Der Kommission ist jedoch darin zuzustimmen, dass der Gerichtshof in jenem Urteil keine Gründe dafür genannt hat, warum der zweite Mitgliedstaat sich seiner Auffassung nach in diesem Fall auf Art. 25 der Richtlinie 2005/85 stützen könnte.


30      Vgl. Urteil vom 13. Juni 2024, Zamestnik-predsedatel na Darzhavna agentsia za bezhantsite (Flüchtlingsstatus – Staatenloser palästinensischer Herkunft) (C‑563/22, EU:C:2024:494, Rn. 57).


31      Diese Erwägungen sind meines Erachtens auf Art. 41 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 übertragbar, der sich ebenso wie Art. 40 Abs. 1 der Richtlinie konkret auf einen „in demselben Mitgliedstaat [gestellten] weiteren Folgeantrag“ bezieht. Insoweit stimme ich mit der Bundesrepublik Deutschland darin überein, dass man davon ausgehen kann, dass es dann, wenn nach Absicht des Unionsgesetzgebers mit dem Begriff „Folgeantrag“ im Sinne von Art. 2 Buchst. q der Richtlinie 2013/32 ausschließlich in demselben Mitgliedstaat gestellte Anträge hätten erfasst werden sollen, aus seiner Sicht nicht geboten gewesen wäre, den spezifischen Wortlaut „in demselben Mitgliedstaat“ zwar in Art. 40 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie, nicht aber in sonstigen Bestimmungen dieses Rechtsakts zu verwenden.


32      Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 bestimmt, dass, „[w]enn eine Person, gegen die ein Überstellungsbeschluss gemäß der [Dublin‑III-Verordnung] zu vollstrecken ist, in dem überstellenden Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, … der gemäß der genannten Verordnung zuständige Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder Folgeanträge im Einklang mit dieser Richtlinie [prüft]“ (Hervorhebung nur hier).


33      Hinzuzufügen ist in diesem Zusammenhang, dass die Kommission in ihrem Vorschlag für eine die Richtlinie 2013/32 ersetzende Verordnung solche Anträge mit Blick auf die Präzisierung des Verfahrens zur Bearbeitung von Folgeanträgen als solche definiert hat, die „von demselben Antragsteller in einem beliebigen Mitgliedstaat gestellt [werden]“, nachdem sein früherer Antrag im Wege einer bestandskräftigen Entscheidung abgelehnt worden ist. Diesem Vorschlag sind meines Erachtens weitere Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass der Begriff „Folgeantrag“ bereits im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2013/32 einen Antrag umfasst, der in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen gestellt wird, der die bestandskräftige Entscheidung über einen früheren Antrag derselben Person erlassen hat (vgl. Art. 42 Abs. 1 des „Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU“, COM[2016] 467 final, abrufbar unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?uri=CELEX%3A52016PC0467). Zum aktuellsten Teil des Gesetzgebungsverfahrens, der zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der vorliegenden Schlussanträge verfügbar ist, vgl. Art. 4 Buchst. s und Art. 39 Abs. 2 des Entwurfs einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU, Dokument des Rates und des Europäischen Parlaments, 2016/0224/A (COD) und PE‑CONS 16/24 vom 26. April 2024.


34      Urteil vom 19. März 2019 (C‑297/17, C‑318/17, C‑319/17 und C‑438/17, EU:C:2019:219, Rn. 58).


35      Ebd. (Rn. 85).


36      Vgl. allgemeiner zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Asylrechts Schlussanträge der Generalanwältin Medina in der Rechtssache Bundesrepublik Deutschland (Wirkung einer Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑753/22, EU:C:2024:82, Nr. 45).


37      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache A. (Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings in die Türkei) (C‑352/22, EU:C:2023:794, Nr. 65). Als Beispiel dafür, dass der Unionsgesetzgeber einen solchen Rahmen für die gegenseitige Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts erlassen hat, vgl. Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.


38      Hinzuzufügen ist, dass nach Art. 5 der Richtlinie 2013/32 „[d]ie Mitgliedstaaten … bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten [können], soweit diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind“.


39      Vgl. Urteil vom 18. Juni 2024, Bundesrepublik Deutschland (Wirkung einer Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑753/22, EU:C:2024:524, Rn. 56 und 68). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Richard de la Tour in der Rechtssache Generalstaatsanwaltschaft Hamm (Ersuchen um Auslieferung eines Flüchtlings in die Türkei)  (C‑352/22, EU:C:2023:794, Nr. 64).


40      Hinzuzufügen ist insoweit, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der ersten Prüfung, ob der „Folgeantrag“ zulässig ist, keine persönliche Anhörung des Antragstellers durchführen müssen (vgl. Art. 42 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32).


41      Vgl. Art. 31 Abs. 8 Buchst. f der Richtlinie 2013/32.


42      Vgl. Art. 41 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32.


43      Vgl. Art. 32 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32. Vgl. auch Art. 7 Abs. 4 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


44      Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Saugmandsgaard Øe in der Rechtssache Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Folgeantrag auf internationalen Schutz) (C‑18/20, EU:C:2021:302, Nrn. 77 bis 79).


45      Dies wird in der Tat durch den vorliegenden Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C‑123/23 veranschaulicht. Die Bundesrepublik Deutschland hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass es infolge des Umstands, dass das Bundesamt zunächst die spanischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragsteller ersucht habe, dann zu dem Zeitpunkt, zu dem es stattdessen die belgischen Behörden darum habe ersuchen wollen, zu spät gewesen sei, um ein „Wiederaufnahmegesuch“ zu stellen.


46      C‑216/22, EU:C:2023:646, Nrn. 51 bis 53.


47      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság (C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 186).


48      Vgl. u. a. Urteil vom 9. September 2021, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Folgeantrag auf internationalen Schutz) (C‑18/20, EU:C:2021:710, Rn. 43).


49      C‑216/22, EU:C:2023:646, Nr. 29.


50      Vgl. insbesondere 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32, wonach „[e]s … im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, [liegt,] dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird“ (Hervorhebung nur hier). Vgl. auch 25. Erwägungsgrund der Richtlinie, wonach „jeder Antragsteller effektiven Zugang zu den Verfahren … erhalten [sollte]“.


51      Vgl. dritter Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32.


52      Siehe oben, Nr. 64.


53      C‑216/22, EU:C:2023:646, Nr. 29.


54      Urteil vom 8. Februar 2024 (C‑216/22, EU:C:2024:122, Rn. 38 bis 40).


55      Ebd.


56      Außerdem wird in Art. 40 Abs. 7 der Richtlinie 2013/32 klargestellt, dass das „Wiederaufnahmeverfahren“ tatsächlich auf in anderen Mitgliedstaaten gestellte „Folgeanträge“ Anwendung findet.


57      Hinzuzufügen ist, dass die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Verordnung zur Ersetzung der Dublin‑III-Verordnung festgestellt hat, dass bereits im Jahr 2014 in der Europäischen Union nur rund ein Viertel aller Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuche, denen vom zuständigen Mitgliedstaat stattgegeben wurde, tatsächlich zu einer Überstellung führten (vgl. S. 11 des Vorschlags für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, COM[2016] 270 final, abrufbar unter folgender Internetadresse: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2016:0270:FIN).


58      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Neue Elemente oder Erkenntnisse) (C‑921/19, EU:C:2021:478, Rn. 34 bis 37).


59      Insbesondere müssen die zuständigen Behörden, sofern sie zu dem Schluss kommen, dass der Folgeantrag unzulässig ist, den Antragsteller über die Gründe für dieses Ergebnis informieren (nach Art. 42 Abs. 3 dieser Richtlinie); ferner muss der Antragsteller die Möglichkeit haben, gegen die Entscheidung der zuständigen Behörden sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht auszuüben (vgl. Art. 46 Abs. 1 der Richtlinie).


60      Vgl. Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32.

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